Das Lebensbaum-Mosaik von St. Annen

Das große Apsisbild von St. Annen hat eine fast filmreife Vorgeschichte. In den frühen 1930er-Jahren ließ die Neuköllner Mosaik­manufaktur Puhl & Wagner ein monumentales Kreuz-Mosaik für ein geplantes Krankenhaus in Karlshorst anfertigen. Das Bauvorhaben scheiterte jedoch, und rund 1,6 Millionen nummerierte Tesserae verschwanden in Kisten. Erst in den 1960er-Jahren fand das unmontierte Kunstwerk eine vorläufige Heimat in der Kapelle eines Krankenhauses in Berlin-Lankwitz. Als diese Kapelle 1993 abgerissen wurde, schenkte man das Mosaik der St.-Annen-Gemeinde. In zweijähriger Feinarbeit wurden die verstreuten Steinchen neu zusammengesetzt und 1995 an der Chorwand montiert. Seither lässt das Mosaik den ganzen Raum in stillem Gold- und Nachtblau erstrahlen.

Vor einem Himmel aus goldschimmernden Steinen steht ein tiefblaues Kreuz, aus dessen Stamm Akanthus­ranken in weite Spiralen wachsen. Das Kreuz wird so zum Baum des Lebens – einem uralten mittel­alterlichen Motiv für die Überwindung des Todes. Zehn weiße Tauben sitzen auf den Kreuzarmen und verweisen auf die Apostel; zwei fehlen gegenüber dem römischen Vorbild. In den Ranken verstecken sich Engel und Vögel, darunter der Pelikan – nach dem mittelalterlichen Physiologus ein Sinnbild für Christus, der Leben schenkt. Jeder einzelne Stein funkelt wie ein kleiner Funke der Auferstehung und lässt den Altarraum zu einem Garten der Hoffnung werden.

Vorbild des Berliner Bildwerks ist das um 1118 entstandene Apsis­mosaik der Basilika San Clemente al Laterano in Rom. Dort ranken sich dieselben Lebensspiralen um ein dunkelblaues Kreuz; paradiesische Tiere und der Fluss des Lebens durchziehen den Goldgrund, zwölf Tauben stehen für die Apostel. Diese Verbindung byzantinischer Ornamentik mit westlicher Theologie wurde zum „Evangelium in Stein“. In St. Annen knüpft die Berliner Fassung an diese Tradition an – eine strahlende Brücke von Rom nach Lichterfelde und eine bleibende Zusage, dass aus dem Kreuz neues, unvergängliches Leben erwächst.